Ausschnitte
Es ist fünf vor zwölf. Der Klimawandel ist real, nicht mehr aufzuhalten, nur noch zu begrenzen. Die Corona-Pandemie zeigt uns Grenzen auf und stellt vieles bisher Selbstverständliche in Frage.
Der Bundesverband der NaturFreunde Deutschland sorgt dafür, dass ein anderes Thema nicht in Vergessenheit gerät, welches durchaus Verbindungen zum drohenden Klimawandel und anderen Krisen hat: die Bedrohung durch Rüstungswettlauf und Kriege. Trotz coronabedingter Einschränkungen organisierten die NaturFreunde eine Friedenswanderung durch Deutschland, von Hannover bis an den Bodensee mit Abstechern in die Schweiz und nach Österreich, in 55 Tagesetappen.
Leider war gemeinschaftliches Übernachten in Turnhallen, Bettenlagern oder Kirchengemeinden wegen Corona nicht möglich; Beherbergungen waren bis Marburg nur für das organisierende Kernteam berufsbedingt zulässig. So wurden viele Etappen fast ausschließlich von Menschen aus der zugehörigen Region erwandert.
Ich habe das Glück, in Marburg liebe Freundschaft zu haben und entschloss mich deshalb, die Etappen von Bad Laasphe bis Frohnhausen mitzuwandern.
Eine Nicht-wissen-ob-sie-stattfindet-Friedenswanderung zu organisieren kann frustrierend sein; die Wanderung war eigentlich schon für 2020 ab Flensburg geplant. Der unermüdliche Yannick Kiesel, hauptamtlich vom NaturFreunde-Bundesvorstand für die Organisation zuständig, fuhr das Begleitfahrzeug, einen Transporter mittlerer Größe. Dadurch wurden wir mit Friedensfahnen, Resolutionen an Bürgermeister:innen, Corona-Schnelltests, bei Vergessen auch mit Mineralwasser versorgt. Wer schweres Gepäck hatte, konnte es im Begleitfahrzeug mitfahren lassen, und selbst mitfahren konnte, wer verletzt oder zu müde zum Weiterwandern war. Yannick konnte im Begleitfahrzeug auch arbeiten, z.B. Anmeldungen für spätere Etappen der Friedenswanderung annehmen. Er war die Konstante auf Bundesebene, während Heidi und Constanze mutig den kurzfristig ausgefallenen Koordinator für den hessischen Teil der Wanderung ersetzten.
Die Frankfurter NaturFreundin Heidi und mich verbinden zahlreiche NaturFreunde-Musiksommer am brandenburgischen Üdersee; wir waren beide froh, gemeinsam mit einer bekannten Person zu
wandern. Wir verteilten Friedensfahnen, die sich prima multifunktional als Wanderstäbe verwenden ließen. Die vereinzelten Menschen, denen wir im verregneten Wald oder in einem der kleinen Dörfer begegneten, bekamen von uns ein Flugblatt mit einer fröhlichen Erklärung, wofür wir wandern; über die lange Strecke gab es Staunen; die meisten lächelten beim Wort „Frieden“ und wünschten uns
Glück.
Der Mutigste von allen ist Norbert, auch wenn mutige Taten bei ihm Routine sind. Selbst blind, mit Erinnerungen an längst vergangene Zeiten begrenzten Sehens, hatte er schon Blinden in Kenia, Uganda und Ruanda Lebenshilfe und Unterricht in Blindenschrift gegeben. Respekt verdient sein Entschluss, zwei Wochen mit täglich wechselnden Menschen auf nicht als Blindenwanderung vorgesehenen Pfaden zu wandern. Mit seinem weißen Stock und mit geschärften Sinnen außer Sehen geht er auch allein in seiner Heimatstadt Göttingen in den Wald. Auf der anderen Seite bietet sich hier auch eine gelungene Umsetzung naturfreundlicher Ansprüche an Inklusion, dass alle ihn unterstützten, mit Hinweisen auf größere Pfützen und über den Weg weisende Äste sowie dem Führen auf belebten Straßen. Dies übernahmen wir alle, vor allem Heidi, mit der ihn eine langjährige Freundschaft verbindet. Auch meine Inklusionsbereitschaft war gefordert: ich neige zu lautem Reden, welches die sehr feine Sinneswahrnehmung von Blinden beeinträchtig. Nach Norberts Hinweis bemühe ich mich um Besserung. Norbert hat viel aufmunternden Humor und liebt es zu singen, vor allem gute Kinderlieder.
Etappe 25: Mittwoch, 26. Mai, Bad Laasphe – Biedenkopf
Bad Laasphe liegt an der Lahn an der Grenze von NRW zu Hessen und ist ein Kurort. Psychiatrie, Physiotherapie, eine Klinik wurde zweckentfremdet. Wir wanderten entlang des Lahntal- Wanderweges, der keineswegs entlang der Lahn verläuft, sondern durch die Schönheiten der Mittelgebirge rundum der Lahn führt mit Steigungen, Bachläufen, einsamen Wiesen und stimmungsvollen Ausblicken.
Schon im Zug von Marburg nach Bad Laasphe traf ich zwei weitgereiste Wanderinnen aus Frankreich; sie wohnen in Lothringen und arbeiten im Saarland und hatten auch Privatkontakte (Heikes
Schwester) zum Übernachten. Gemeinsam überzeugten wir uns, immer geradeaus auf dem richtigen Weg zum Haus des Gastes, dem Startpunkt, zu sein.
Trotz des regnerischen Wetters und der etwas ungünstigen Randbedingungen waren wir eine fröhliche Gruppe von sieben Frauen und zwei Männern. Matthias, Vorsitzender der NaturFreunde- Bundesfachgruppe Bergsteigen, führte die Tagesetappe; ebenfalls kurzfristig angesprochen, aber mit seiner Familie vorgewandert, er führte sicher und souverän. Anne ist Vorsitzende der Initiative „Rettet den Burgwald“ – ein beeindruckendes Waldgebiet nordöstlich der jungen Lahn, mit vielen Mooren, die unübertroffene CO2-Senken sind. Das Gebiet bietet Zuflucht für viele mehr oder weniger seltene Pflanzen und Tiere. Anne kämpft mit ihrem Verein um den Fortbestand dieses Waldgebietes, denn es ist bedroht durch den großen Wasserdurst der Stadt Frankfurt. Heidi erzählt, dass die Frankfurter NaturFreunde einen symbolischen Lauf in den Vogelsberg planen mit dem Motto: „Wir bringen das Wasser zurück“. Sie erzählt auch von der Idee, Duschwasser zur Toilettenspülung zu nutzen, was ich inzwischen auch ausprobiere.
Die Lothringerinnen sind ebenfalls ökologisch interessiert, arbeiten im Öko-Institut und in der Stadtplanung.
Und so gab es in unserer kleinen Gruppe reichlich Gesprächsstoff über Frieden, Ökologie und den Fortbestand der Menschheit.
Nicht nur beim Erzählen klangen unsere Stimmen. Gleich beim Aufstieg von Bad Laasphe passierten wir ein kleineres schwarzes amphitheaterähnliches Denkmal, dessen Geheimnis in keinem Reiseführer stand, aber Marie-Louise kannte es: Beim Sprechen oder Singen in der Kreismitte echot und hallt die eigene Stimme mit rauer Kraft zurück; ein besonderes, für jede und jeden, ganz privates Klangerlebnis.
An den Resten eines Skulpturenwettbewerbs vorbei passierten wir ein Kriegstotendenkmal „doch jeder war einer Mutter Sohn“. Im Regen ging es steil bergauf bis auf den 555 m hohen Entenberg, über den die Grenze zwischen NRW und Hessen verläuft, und der in Hessen Endenberg heißt. Welche Bedeutung ist wohl wahr?
Unser Bergsteiger-Wanderleiter hing mit Unterstützung die Friedensfahnen auf. Wir fotografierten stolz Grenzstein, Fahne, Ausblick und uns sowie den Stempelkasten für unkomplizierte Erinnerungen. In das Gästebuch schrieb ich eine Strophe eines Naturfreundeliedes, nach meiner Erinnerung die zweite Strophe des Freundschaftsliedes:
Wir wandern durch die Täler, über Berge und Höhn und lassen die Heimat zurück.
Wir wolln uns auch mit Menschen andrer Länder gut verstehn in
Freundschaft und Frieden und Glück.
Dem Bruder reichen wir die Hand, der mit uns lacht und singt.
Aus Freundschaft und aus Menschenliebe knüpfen wir ein Band, ein Band, das die Erde umschlingt.
Richtigen Enten oder vielmehr Nilgänsen begegneten wir nach dem Abstieg vom Endenberg am Perfstausee, der das Lahnwasser stauen und so die Stadt Marburg vor Überschwemmungen schützen soll. Im verschlafenen Breidenbach konnten wir nur wenige Flugblätter durch Autotüren reichen. Beim nächsten Aufstieg sahen wir Ziegen, die sich auf einem schrägen Kletterbrett austoben dürfen, und Matthias versprach uns noch eine große Tierleiche, diese entpuppte sich als Kuhl-eiche, als Eiche neben einem Brunnen.
Zwischendurch passierten wir Windkrafträder so nahe, dass unser Matthias trotz ökologischen Grundanspruchs sagte, er kann verstehen, dass Menschen nicht direkt neben einem solchen Windrad wohnen möchten. Mir war dieses gleichmäßige Geräusch nicht zu laut, ich finde Autos lauter. Stolz thronte beim letzten Abstieg das Landgrafenschloss zu Biedenkopf vom gegenüberliegenden Berg.
Wir durchquerten unseren Zielort. Vor dem neuen Rathaus empfing uns als Vertretung des urlaubenden Bürgermeisters der erste Beigeordnete.
Yannick und Heidi übergaben ihm unsere Friedensresolution und eine blaue Friedensfahne; er antwortete weise, dass wir das Gestern und das Morgen nicht ändern können, nur das Heute. Er empfiehlt uns, viel zu reisen; in Paris lernte er eine Frauengruppe aus einem lateinamerikanischen Land kennen, die ihn spontan einluden. Das Rathaus zierte eine Gedenktafel mit den Worten: „Im Gedenken an die Opfer von Krieg und Unterdrückung bekennt sich die Stadt Biedenkopf zum Frieden als oberstem Ziel ihres Handelns. Sie wird das in ihrer Macht Stehende tun, um zur Ächtung von Gewalt als Form menschlicher Auseinandersetzung beizutragen.“ Kann eine kleine Landstadt mit 14.000 Einwohnern einschließlich Eingemeindungen mehr tun?
Damit wir wiederkommen, erhielten dle Wandernden als Geschenk eine Wasserflasche am breiten grünen Band sowie Prospekte aus der Stadtwerbung von Biedenkopf. Wir verabschiedeten uns von Matthias, der die nächsten Tage nicht dabei sein konnte. Constanze, die Wanderleiterin für die nächsten zwei Tage und dann später im heimatlichen Taunus, wurde von Heidi freudig begrüßt. Dann übernachteten Yannick, Heidi, Norbert und Konstanze in der Jugendherberge, die anderen fuhren nach Hause oder zu ihrer Gastfreundschaft.
Etappe 26: Donnerstag, 27. Mai: Biedenkopf – Caldern
Das Kernteam war begeistert von der Biedenkopfer Jugendherberge; wir anderen reisten an. Auch Anne, Marie-Louise und Dorothea, eine der beiden Lothringerinnen waren wieder dabei. Konstanze hatte keine Gelegenheit mehr, die Strecke vorzulaufen, sie verließ sich auf das Navigationssystem Commoot unterstützt von der ortskundigen Anne. Heute waren wir sechs Frauen plus Norbert.
Gestern rockte das Amphitheater, heute begegneten wir den Stones. Die Künstlerin Ursula Cynax projektierte 2016 gemeinsam mit Jugendlichen menschhohe Basaltsteine. „Ist das der Stein der Weisen“ stand auf einem. „Ist das der Stein des Anstoßes“ auf einem anderen. Und dann gab es den Stein, der vom Herzen fiel. Der Weg bergauf war eher matschig als steinig, es regnete stark, aber wir wurden von drei ganz unterschiedlichen Orchideen am Wegesrand belohnt, die Anne, Dorothea und Marie-Louise entdeckten. Die nächste Hütte bot etwas Schutz, und so lernten wir von Anne etwas über das Grenzgängerfest, das die Stadt Biedenkopf alle sieben Jahre feiert. Früher war regelmäßige Begehung der Stadtgrenze wichtig, verführten doch die wertvollen Holzbestände des Stadtwaldes zu krimineller Energie im Verschieben der Grenzsteine. Und die Grenzgänger frühstückten in unserer Schutzhütte.
Der morgendliche starke Regen hörte mittags auf, und wir genossen die Wälder. Constanze liebt schmale Pfade; ich liebe meinen Friedensfahne-Wanderstab, der ein bisschen Mikroklima von den Lahnbergen in den Taunus- und dann weiter in den Schwarzwald? - transportiert. Wir freuten uns an sattgrünen blühenden Wiesen, Kühen und Kälbchen. Im Weiler Waldkatzenbach setzte sich tatsächlich eine besondere Katze -schwarz mit weißem Lätzchen und weißen Pfoten – neben uns; sie ließ sich nicht stören, als ich ihre Schnurrbarthaare fotografierte. Der friedliche Friedenstag – wir genossen vor allem den Frieden in und mit der Natur – führte an der Gemeinde Friedensdorf vorbei und endete in Caldern – 1200 Einwohner und ein winziger Bahnsteig, auf dem ich gerade noch einen Zug nach Marburg erwischte.
Etappe 27: Freitag, 28. Mai Caldern – Marburg
Start um 9:30 Uhr. Die Nähe zum Wochenende und zu Marburg sah man an der Gruppengröße von 30 Personen; auch die Fahnen wurden vielfältiger. Ein junger Kolumbianer, der sich per T-Shirt und Anstecker für sein Land einsetzt, trug eine DFG-VK-Fahne. Wir begannen mit einer kleinen Vorstellungsrunde. Heute war es wolkig und niederschlagsfrei; das kleine Caldern hat eine Nikolaikirche und ein ehemaliges Zisterzienserinnenkloster. In Dagobertshausen erinnert ein Schaukasten mit Zeitungsartikeln an die größte Eiche Deutschlands, die Mitte des 18. Jahrhunderts so groß und hohl war, dass ein Schweinehirt das Innere des Baumes zu seinem Stall machte. Um 1900 brachen die letzten Reste zusammen. In den Feldern wurde Kultur geboten: Eine Bürgerinitiative plakatierte zur Verhinderung einer Umgehungstraße Gedichte von Heine und Novalis.
Im Wald begegneten wir einem Auto mit der Aufschrift „Inspektion“. Ich stellte uns vor und verteilte ein Friedensflugblatt und fragte die drei Insassen, was sie so machen im Wald. Sie kontrollieren, ob jemand das Wasser verunreinigen möchte – vielleicht sogar Corona-Gegner*innen zur Bekämpfung von Impfstoffen, die im Behring-Werk produziert werden sollen. Ich musste mich beeilen, die
Wandergruppe wieder zu erreichen, aber sie warteten, aber Begegnungen und Gespräche gehören auch zu einer Naturfreunde-Wanderung.
Dann sahen wir den großen grünen Kasten, ein W02-Hochbehälter von Pharmaserv enstand da. Anne und die Bewegung „Rettet den Burgwald“ sehen die Nutzung für die Erweiterung der Behringwerke mit Skepsis. Engagiert berichtet sie, dass letztes Dürrejahr 2020 die Gemeinde Ulrichstein im Vogelsberg per Tankwagen mit Trinkwasser beliefert wurde. Constanze ergänzte den Bericht mit Taunusgemeinden, denen es ebenso ging. Wie wichtig gutes Wasser in Zeiten des Klimawandels ist, wird im Verlauf unserer Wanderung immer deutlicher, auch unter dem Aspekt, dass immer mehr Kriege, z.B. in Kurdistan, ums Wassergeführt werden. Und auch der geplante Autobahnbau im Dannenröder Forst bekommt unter dem Aspekt Trinkwasserversorgung und Flächenversiegelung eine besondere Brisanz.
Am Marburger NaturFreunde-Haus Steinkautenhütte erwartete uns Bio-Fertigpizza zur Stärkung. Ich half beim Zubereiten und wurde bald vertraut mit den etwas älteren Elektroherden und deren teils fehlenden Aufschriften. Leider verpasste ich dadurch die Rede von Marburgs OB Spies, einem der inzwischen zahlreichen sozial engagierten Ärzten, die eine Stadt führen. Michael Müller, Bundesvorsitzender der NaturFreunde, machte eindrücklich klar, wie die Aufrüstung zur Verschärfung des Klimawandels beiträgt und wie wahnwitzig das 2%-Aufrüstungsziel der NATO ist – dass sich Aufrüstung nicht an der realen Bedrohung orientiert, sondern am Wirtschaftswachstum. Eine Vertreterin der Linkspartei stellte die bunte Zusammensetzung und die vielfältigen Aktivitäten des Marburger Bündnisses für Abrüstung vor. Die vier Aktivistinnen der Musikgruppe „Unerhört“ waren hier von uns Wandenden und zahlreichen Gästen nicht unerhört; Saxofon, Trommel, Akkordeon und schwungvoller mehrstimmiger Gesang brachte manchen Körper, aber vor allem unsere grauen Gehirnzellen zum Tanzen mit Texten wie “Geht, geht, geht auf die Straße bevor die Welt im Müll versinkt“, „Tiere würden niemals sowas tun, darum nennt mich niemals blödes Huhn“ oder “Wir wollen leben, überleben, schlechte Zeiten überleben“.
„Unerhört“ begleitete uns fußmäßig sowie musikalisch auf unserem weiteren Weg zu den Behringwerken, z.B. mit dem umgetexteten „Bella Ciao“ der Fridays for future. Wir passierten die neue Biontech-Produktionsstätte gegen Corona. Vor dem stattlichen Behring-Mausoleum erfuhren wir die Lebensgeschichte von Elsa von Behring, die sich sozial für die Angehörigen der Kriegsopfer engagiert und als Jüdin unter den Nazis durchsetzte, dass einer ihrer Söhne studieren konnte. Ihr Mann Emil Behring entdeckte das Diphtherieserum für die Kinder und das Tetanusserum für die Soldaten, und seine Familie wurde dafür geadelt. Um Medizin studieren zu können musste der Sohn eines kinderreichen mittellosen Dorfschullehrers die neunjährige Laufbahn (!) als Militärarzt einschlagen.
„Unerhört“ fordert unser Gehör nicht nur mit Musik, sondern setzt sich für eine junge Frau ein, die wegen des Tretens auf eine Polizistenhand während des Losgekettetwerden im Dannenröder Forst des Mordversuches (!) verdächtigt wird. Sie gibt ihren Namen nicht preis und sitzt in Frankfurt- Preungesheim in Untersuchungshaft. „Unerhört“ hält den Kontakt. Heidi, die Frankfurterin, sagte sofort zu, sich um sie zu kümmern und hielt Wort, als sie ein paar Tage später auf der Frankfurter Kundgebung der Friedenswanderung die Geschichte erwähnte.
Wir wanderten weiter, an Pferden vorbei; irgend jemand betonte, dass dies nicht die Behring- Versuchspferde zur Entwicklung von Seren sind. Durch die Marburger Innenstadt hielt der blinde Norbert sich wie gewohnt bei für ihn unübersichtlichen Strecken an einem Rucksack eines Mitwanderers fest. Wegen der Blindenschule in Marburg begegneten uns viele Menschen mit weißem Stock.
Nach kurzem Stopp an der Elisabethkirche endete die Wanderung am Jägerdenkmal im Schülerpark. Mit den Jägern sind keine Schützen von hormon- und antibiotikafreiem Fleisch gemeint, sondern die Marburger Jäger waren Reitertruppen. Wegen ihrer unrühmlichen Geschichte wurde das ursprünglich als Heldendenkmal erbaute Jägerdenkmal „verblendet“ mit Gitterstäben und Gedenktafeln an die von Helden- und Gewalttaten verblendeten Jäger: Blutige Bekämpfung der Pariser Commune 1870, Vertreibung der Nama/Südwestafrika zum elenden Verdursten in die Wüste, Massaker an Zivilist*innen im belgischen Dinant 1914; Schießen auf streikende Arbeiter im schlesischen Bergwerk Königshütte (jetzt polnisch) im Januar 1919. Von der Literaturwissenschaftlerin Maximiliane Jäger-Gogol erfuhren wir sachkundig und engagiert die Geschichte sowie die politischen Auseinandersetzungen um die Verblendung des Jägerdenkmals, die in Marburg immer noch umstritten ist. Maximiliane beendete ihren spannenden Vortrag mit Ingeborg Bachmanns Gedicht „Freies Geleit“.
Etappe 28, Samstag, 29. Mai, Marburg – Fronhausen
NaturFreunde verbünden sich gerne. Heute wurde dies deutlich an der Teilnahme einer Marburger Gruppe von ICAN, die in Fronhausen reden sollte, sowie an der Wanderleitung. Diese wurde hochprofessionell von der Vorsitzenden und ihrem Stellvertreter der Deutschen Wanderjugend gestellt, die aus Aschaffenburg anreisten. Der Deutschen Wanderjugend, das lernte ich an diesem Tag, gehören automatisch alle Jugendlichen aller deutschen Wandervereine an, und wir, diesmal eine richtig große Gruppe von über vierzig Wandernden, überquerten insbesondre einige befahrene Autostraßen, die von der Wanderleitung selbstbewusst beidseitig abgesperrt wurden.
Die Wanderung begann im Marburger Süden an einer Bushaltestelle. Der Vorsitzende der Marburger Naturfreunde hielt eine kleine Begrüßungsrede. Unsere Strecke war weniger gebirgig als an den Vortagen, grüne Wälder und bunte Felder, blauer Himmel und Schäfchenwolken erfreuten uns. Anne, Heike, Dorothea und Marie-Louise waren nicht mehr dabei, aber es gab weiterhin gute Gespräche. Mit einem älteren Kommunisten, der sich noch gut an den Sozialistischen Hochschulbund erinnern konnte, in dem ich in den 80-er Jahren Mitglied war, tauschte ich Lebensphilosophie und Haltung zu politischen Parteien. Er nahm von mir mit, dass der Neoliberalismus eine Ideologie für faule Politiker*innen ist: Wenn alles dem Markt überlassen ist, muss man ja nichts tun.
Auch Norbert kam mit diesem Menschen ins Gespräch, und er hatte von ihm den Namen Georg Fülberth erfahren, mir als solcher bekannter Autor vieler marxistisch-politisch-analytischer Artikel, z.B. in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“.
Unterwegs entdeckte ich wieder Tiere und den zugehörigen Schaukasten: Hier gab es das Rotbunte Husumer Schwein, auch Dänisches Protestschwein genannt; der schneeweiße Gürtel um die Vorderläufe machte die Tiere Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts zu Erinnerungsträgern an die dänische Flagge. Diese war nach der Eroberung von Schleswig und Holstein im Zuge der Entstehung des Deutschen Reiches den dort lebenden Dän*innen verboten. Aber Verbotenes lebt oft weiter, diesmal auf der Haut von Schweinen.
Mittagspause an einem Kneipp-Becken. Nur unsere jugendliche Wanderleitung setzte das um, was der damals ebenfalls hart um sein Medizinstudium kämpfende Arzt Sebastian Kneipp für solche Becken vorgesehen hatte: Wassertreten. Ich steckte wenigstens die Füße ins Wasser.
Die Wanderleitung hatte etwas Friedfertiges im Angebot: Alle suchten sich ein lauschiges Plätzchen im Wald, schlossen die Augen und schwiegen fünf Minuten.
Schon auf dem Gang durch den Friedhof der evangelischen Kirche von Frohnhausen begegnete uns die junge freundlich-offene Bürgermeisterin von Fronhausen, Claudia Schnabel, mit ihren ersten
Beigeordneten. Bevor wir gemeinsam durch den Ortskern wanderten, hatten wir die Gelegenheit, einen kurzen Blick auf eine spezielle Abfallverwertung zu werfen (für Norbert gab es hier etwas zu ertasten): Aus der ehemaligen Abfallgrube des Friedhofes (hier muss man sich Steinabfälle
vorstellen) soll eine Ausstellung historischer Grabsteine entstehen.
Nicht nur Grabsteine, auch die Wandplastiken „Resignation“, Widerstand“ und „Befreiung“ , Leihgabe einer Verwandten des in Sibirien geborenen Künstlers Erich Grün schauten auf uns. Der Künstler verlor bei einem Bombenangriff im 2. Weltkrieg Frau und drei Kinder.
Auf dem Rathausvorplatz standen ein Feuerwehrauto und ein Bürgerbus neben unserem Begleitfahrzeug, es gab Frischkäsehörnchen und Salzstangen. Und neben der vertrauensvollen offiziellen Begrüßung durch die Bürgermeisterin die Rede der beiden Vertreterinnen der Marburger Hochschulgruppe von ICAN.
ICAN steht für „Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen, erhielt 2017 den Friedensnobelpreis und ist selbst ein Bündnis von Nichtregierungsorganisationen. Das Ziel ist kein geringeres als die weltweite Abschaffung von Atomwaffen. Dazu gibt es bereits einen durch die UN- Vollversammlung mandatierten ausgearbeiteten Vertrag, der von mehr als 50 Staaten ratifiziert und deshalb ab Anfang 2021 in Kraft ist. Peinlicherweise nahmen die Atomwaffen- und die NATO-Staaten nicht an den Verhandlungen teil und unterstützen den Vertrag nicht. Inzwischen unterstützen aber 127 Städte und mehrere Landkreise und Regionen den weltweiten Städteappell und repräsentieren hiermit 29% der Gesamtbevölkerung Deutschlands. Die beiden Frauen, die tapfer das Transparent von ICAN Marburg durch die Wanderung getragen haben, wiesen auf die aktuellen Gefahren der weltweiten Modernisierung von Atomwaffen hin und auf die Menschenkette am Atomwaffenstandort Büchel in der Eifel am 5. September.
Hier endet mein Bericht der ersten fünf Tage meiner Teilnahme an der Friedenswanderung. Ich beteiligte mich noch an der Paddeltour von Fronhausen nach Gießen ( Etappe 29 )sowie an den Etappen 31 – 36 von Butzbach bis Darmstadt. In Darmstadt gab es übrigens im Rahmen der Friedenswanderung eine Podiumsdiskussion, in der die Aktivitäten von ICAN als durchdachter Weg zum Frieden bezeichnet wurden, der auch Sicherheitsbedenken berücksichtigt.